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Nachlese

zu einem Vortrag von

Philippa Sigl-Glöckner
Direktorin des Dezernat Zukunft e.V.
Ökonomin und Mitglied im Wirtschaftspolitischen Beirat der SPD

"Staatsverschuldung: Gefahr oder Chance"

Veranstaltung des Peutinger-Collegium e.V. in Kooperation mit THE WESTIN GRAND München am Donnerstag, 18.11.2021


Der Präsident des Peutinger-Collegium e.V., Dr. Andreas Bachmeier, eröffnet die Veranstaltung und begrüßt Peutinger-Mitglieder und Gäste. Er heißt die Referentin des Abends, Philippa Sigl-Glöckner, Direktorin des Dezernat Zukunft e.V., Ökonomin und Mitglied im Wirtschaftspolitischen Beirat der SPD, herzlich willkommen. Die jüngsten Ereignisse nach der Bundestagswahl hätten der SPD eine neue Rolle im politischen Berlin zukommen lassen und somit der heutigen Veranstaltung besondere Aktualität verliehen. Die Einladung an Philippa Sigl-Glöckner sei jedoch bereits im Sommer erfolgt, also zu einem Zeitpunkt, an dem diese neue Rolle der SPD noch eine Mutmaßung war. Deshalb könne sich die Referentin dem großen Interesse an ihrer Person und ihren Thesen sicher sein, betonte Dr. Bachmeier launig. Er übergab das Wort an Dr. Pia Bürvenich, Mitglied der Jungen Peutinger, zur Einführung der Referentin Philippa Sigl-Glöckner.

Dr. Pia Bürvenich begann die Einführung der Referentin mit einer persönlichen Veranschaulichung des Themas. So habe eine Bekannte jüngst einen Kredit aufgenommen, um ein Studium im Ausland aufzunehmen. Bei der Bewertung dieser Kreditaufnahme handle es sich um das private Äquivalent der Fragestellung des heutigen Abends: "Staatsverschuldung: Gefahr oder Chance". Philippa Sigl-Glöckner habe nicht nur in der Finanzpolitik eine profilierte Meinung, sondern beispielsweise auch in der Einwanderungspolitik. In beiden Feldern sei ihre Leitlinie die Suche nach nachhaltigen und menschlichen Alternativen. Das übergeordnete Element sei die Diskussion über Staatsverschuldung. Deshalb ist eines ihrer zentralen Anliegen, dass jeder über Finanzpolitik sprechen solle. Dr. Pia Bürvenich geht im Anschluss näher auf die Vita von Philippa Sigl-Glöckner ein. Ihr Lebenslauf sei geprägt von drei Schritten, die das Herz eines jeden Personalverantwortlichen höherschlagen lassen würden. Schritt Eins: Ein Studium in Oxford. Hier widmete sich Philippa Sigl Glöckner der Volkswirtschaft, aber auch der Philosophie. Schritt Zwei: Internationale Erfahrung. Philippa Sigl-Glöckner arbeitete bei der Weltbank und kümmerte sich um das Thema Entwicklungshilfe. Danach folgte das Angebot für eine Tätigkeit im liberianischen Finanzministerium. Schritt drei: Unternehmensgründung. Parallel zu ihrer Tätigkeit im Bundesfinanzministerium, unter anderem als Büroleiterin eines Staatssekretärs, gründete sie ihr eigenes Unternehmen, die Denkwerkstatt "Dezernat Zukunft". Dr. Pia Bürvenich fasst zusammen: ein Lebenslauf, der verschiedene Sichtweisen auf Finanzpolitik vereint, eine Vision für eine nachhaltige Wirtschaftsordnung und ein eigenes Startup, das diesem Ziel inhaltliche Tiefe und Substanz gebe. Das biete die perfekte Grundlage für den heutigen Vortrag. Dr. Pia Bürvenich bittet Philippa Sigl-Glöckner auf die Bühne.

Philippa Sigl-Glöckner bedankt sich für eine "fast überwältigende" Einführung. Sie gibt einen Überblick über die Struktur des heutigen Vortrags: Erstens, Schulden als Gefahr. Zweitens, Schulden als Chance. Drittens, Implikationen für die Finanzpolitik. Philippa Sigl-Glöckner beginnt ihren Vortrag mit dem zentralen Vorbehalt bezüglich einer Reform der Schuldenbremse: Die Angst vor Schulden. Sie speise sich aus der Frage: Ist eine Rückzahlung möglich? Jedoch seien Schulden differenziert zu betrachten. Es mache einen großen Unterschied, ob sich Staaten in Fremd- oder in Eigenwährung verschulden. Denn: Zahlungsunfähigkeit auf Basis von Schulden in Eigenwährung sei nicht möglich. Als Beispiele führt die Referentin die Staatshaushalte Liberias und der Vereinigten Staaten auf. Beide seien hoch verschuldet, allerdings nur die USA in heimischer Währung. Die Bewertung der Haushalte falle entsprechend unterschiedlich aus. Philippa Sigl-Glöckner führt weiter aus, dass Staatsschulden aufgrund ihrer Eigenschaften in Bezug auf Ausfallrisiko Geld sehr viel ähnlicher seien als Privatschulden. Diese Feststellung führt die Referentin zur Fragestellung: Warum müssen Schulden auf Basis dieser Beobachtungen begrenzt werden? Um die Frage zu beantworten geht sie auf einen zweiten großen Vorbehalt ein, der in diesem Zusammenhang genannt wird: Hohe Staatsschulden würden zu einer hohen Zinslast für den Staatshaushalt führen. Auch an dieser These zweifelt Philippa Sigl-Glöckner. Die Staatsschuldenquote würde nichts darüber aussagen, was Schulden tatsächlich kosten. Entscheidend sei die historisch niedrige Zins-Steuer-Quote. Während Anleger in der Vergangenheit dafür bezahlt wurden, in Staatsanleihen zu investieren, müssten Investoren über negative Renditen heute sogar Mehrkosten tragen, um in Bundesanleihen zu investieren. Mit jeder weiteren Anleihe könnten also die Zinskosten für den deutschen Staat gesenkt werden. Philippa Sigl-Glöckner geht näher auf die regulatorischen Grundlagen der europäischen Finanzpolitik ein. Zentral seien die zwei Maastricht-Kriterien aus dem gleichnamigen Vertrag, der 1991 eine neue Phase der Europäischen Integration einläutete. Kriterium Eins: eine Schuldenquote von 60 Prozent. Kriterium Zwei: ein jährliches öffentliches Defizit von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die Referentin führt aus, dass beide Kennzahlen einem historischen Kontext entstammen, der nicht auf die Finanzpolitik der heutigen Zeit übertragbar sei.

In dem nächsten Teil des Vortrags führt die Referentin aus, welche Chancen auf Basis der vorausgehenden Überlegungen von Staatsschulden ausgehen würden. Philippa Sigl-Glöckner beschreibt, warum die Schuldenquote aus ihrer Sicht irrelevant für die Bewertung eines Staatshaushaltes sei. Sie beschreibt zwei Größen, die die Staatsfinanzen deutlich stärker bestimmen. Zum einen der demographische Wandel. Er führe zu einer hohen demographischen Abhängigkeitsquote. Sie äußere sich in einer starken Belastung der Staatsfinanzen durch Rentenzuschüsse. Hier habe die Politik wenig Handlungsspielraum. Anders verhalte es sich jedoch bei der ökonomischen Abhängigkeitsquote. Sie beschreibt das Verhältnis der Menschen, die von Transferleistungen abhängig sind im Verhältnis zu allen Menschen im erwerbsfähigen Alter. Dies sei die entscheidende Kennzahl für die Politik, denn hier bestehe Einflussmöglichkeit. Die Referentin nennt drei Stellschrauben, um die ökonomische Abhängigkeitsquote zu optimieren. Erstens, eine Reduzierung der Anzahl der geringfügig Beschäftigten. Zweitens, eine Reduzierung des hohen Anteils von Teilzeit-Arbeitsmodellen. Drittens, eine Reduzierung des Niedriglohnsektors in Deutschland. Hier habe die Finanzpolitik entscheidende Einflussmöglichkeiten auf den Arbeitsmarkt: Erweiterung der Weiterbildungsmöglichkeiten zur Wiedereingliederung Arbeitsloser, Erweiterung der Kita-Betreuung zur Teilzeit-Reduzierung, Erhöhung der Löhne für Angestellte im öffentlichen Dienst zur indirekten Beeinflussung der Löhne aus der Privatwirtschaft.

Im letzten Teil ihres Vortrags fasst die Referentin die daraus abgeleiteten Implikationen für die Finanzpolitik zusammen. Die Schuldenbremse begrenze die rechnerische Nettokreditaufnahme, bestehend aus zwei Komponenten: Erstens, über ein strukturelles Defizit von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Zweitens, durch eine Konjunkturkomponente. Letztere ermöglicht eine Ankurblung der Konjunktur durch Schuldenaufnahme. Doch die dafür zugrunde liegende Berechnung einer möglichen Unterauslastung der Wirtschaft basiere auf zahlreichen falschen oder wissenschaftlich fragwürdigen Annahmen. Die Folge sei eine Unterschätzung der deutschen Wirtschaft bei einer gleichzeitig älter werdenden Gesellschaft. Damit schade die derzeitige Finanzpolitik der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen. Außerdem, so Philippa Sigl-Glöckner, sei das zentrale Problem der Politik nicht übermäßiges Geldausgeben. So habe von 2011 bis 2019 die Politik nie ansatzweise die maximal zulässige Nettokreditaufnahme ausgeschöpft.

Am Ende ihres Vortrags kommt die Referentin zu vier zentralen Schlussfolgerungen. Erstens, die Schuldenbremse in ihrer heutigen Ausgestaltung sei einer nachhaltigen Finanzpolitik nicht zuträglich. Zweitens, die Politik müsse weg von der Kurzfristigkeit des jährlichen Defizits hin zu einer langfristigen Tragfähigkeit. Drittens, mehr Analyse und weniger nicht belegbare Glaubenssätze bei der Gestaltung der Finanzpolitik. Viertens, weniger Machtkonzentration bei der Exekutive, verbesserte Kontrolle und externe Evaluierung der Finanzpolitik. Allerdings nennt die Referentin auch drei Einschränkungen in Bezug auf eine Neubewertung der Finanzpolitik. Erstens, es lasse sich daraus keine grundsätzliche Präferenz des Staates über den Markt beziehungsweise öffentlicher Investitionen über private, ableiten. Zweitens, auf Basis der vorausgehenden Überlegungen lasse sich keine geringere Achtsamkeit bei Ausgaben rechtfertigen. Schließlich binde jede Ausgabe Ressourcen, die sinnvoll eingesetzt werden müssen. Drittens, Schulden seien nicht per se immer gut. Wichtig sei hingegen, den jeweiligen Kontext der Finanzpolitik nach den genannten Grundsätzen zu bewerten und immer wieder zu überprüfen.

Diskussionsrunde:

Frage: Welche der genannten Punkte werden sich in der neuen Koalitionsvereinbarung wiederfinden?

Philippa Sigl-Glöckner: Sowohl Transformation, Dekarbonisierung, als auch die Stärkung des Arbeitsmarkts werden eine große Rolle spielen. Wie sich die Finanzpolitik jedoch konkret gestaltet ist gerade noch in der Diskussion.

Frage: In Bezug auf Staatsschulden wurde im heutigen Vortrag viel über Zinsen gesprochen. Allerdings fehlte der Aspekt Tilgung. Spielt das keine Rolle? Anmerkung: Die finanzpolitischen Konsequenzen von zahlreichen Nebenhaushalten müssen bedacht werden.

Philippa Sigl-Glöckner: Bezüglich Nebenhaushalte: da bin ich bei Ihnen. Das sehe ich kritisch als Variante, die Schuldenbremse zu umgehen. Es wird dadurch schwerer, das finanzpolitische Verständnis und Transparenz zu wahren. Zur Tilgung: Der Staat hat unendliche Lebensdauer. Warum sollte der deutsche Staat Schulden tilgen? Die Vergabe von Bundesanleihen ähnelt eher einem "asset management". Ja, es kann sein, dass sich die Situation in Bezug auf Staatsschulden bei steigenden Zinsen verändert, aber das wird langsam gehen. Tilgung ist deshalb momentan zweitrangig und nicht das wichtigste Thema.

Frage: Wie wirkt sich eine erhöhte Geldmenge durch die Aufnahme von Staatsschulden auf die Zinsen aus? Wie definieren sie nachhaltige Finanzen?

Philippa Sigl-Glöckner: Eine etwas profane Definition von nachhaltigen Finanzen ist die Verhinderung von endlos ansteigenden Ausgaben. Die großen Hebel im deutschen Haushalt sind dabei die Rentenausgaben sowie Lohn- und Einkommenssteuern. Sobald die gut verlaufen, wird ein eskalierender Schuldenstand verhindert. Zum Thema Geldmenge: Ich stimme Ihren Sorgen bezüglich Inflation zu, wenn man bei der Schuldenaufnahme über das Ziel hinausschießt. Deshalb muss hier schrittweise vorgegangen werden. Allerdings zeigen die Entwicklungen in der Geldpolitik auch, dass die Geldmenge nicht das entscheidende Kriterium für Inflation ist.

Frage: Wofür sollen die durch eine Erhöhung der Schuldenquote eingenommenen Mittel eingesetzt werden, in die Infrastruktur oder in die Erhöhung der Renten? Wie kann man das steuern? Wie kann verhindert werden, dass durch eine Auflösung der Schuldenbremse private Investoren Vertrauen verlieren?

Philippa Sigl-Glöckner: Die jetzige Schuldenbremse bietet nur Schein-Vertrauen. Sie sagt nichts darüber aus, wie es um das Defizit bestellt ist. Schon heute gibt es dafür Möglichkeiten neben der Schuldenbremse. Beispielsweise können einzelne Haushalte ausgenommen werden. Vertrauen muss daher durch Dialog gebildet werden. Zum Thema Sicherstellung der Ausgaben: Das kann nicht über eine Begriffsdefinition festgemacht werden. Was genutzt werden muss, ist der demokratische transparente Diskurs, beispielsweise im Haushaltsausschuss.

Frage: Was treibt Sie an? Warum fiel die Wahl auf Studienfach VWL?

Philippa Sigl-Glöckner: Eine Urlaubslektüre von Joseph E. Stiglitz beeinflusste die Studienwahl zugunsten VWL entscheidend. Ich will verhindern, dass wir die Gestaltung unserer derzeitigen Staatsfinanzen in der Retrospektive bereuen. Das treibt mich an.

Frage: Welche internationalen Auswirkungen hat es, wenn man Tilgung von Staatsschulden in der Finanzpolitik nur sekundär verfolgt?

Philippa Sigl-Glöckner: Sie gehen davon aus, dass ein niedriger Schuldenstand etwas davon aussagt, wie stark unsere Wirtschaft ist. Ich halte das aber für eine Scheinsicherheit. Die Hebel der Staatsfinanzen sind Einnahmen aus Arbeit und die Ausgaben für den Unterhalt der Bevölkerung. Ich bin deshalb dafür, bestehende volkswirtschaftliche Postulate bezüglich Staatsfinanzen zu hinterfragen.

Frage: Kann in der gegenwärtigen Währungsunion die Aufweichung der Schuldenbremse überhaupt noch verhindert werden?

Philippa Sigl-Glöckner: Das ist ein komplexes Problem. Aber in dem Moment, in dem man in einer Währungsunion ist, ist man auch in einer Haftungsunion. Das hat man leider politisch damals nicht klar gemacht. Die Frage lautet: Will man sich dauerhaft in diesen Verantwortungsbereich begeben? Dann braucht man zugehörige demokratische Systeme.

Frage: Zeigen Indikatoren wie Immobilienmarktpreise, dass die Inflation stärker ausfällt als im politischen Diskurs genannt? Wie sehen Sie die Zukunft der Mastricht-Kriterien?

Philippa Sigl-Glöckner: Bezüglich Maastricht wird die zugehörige Debatte in Deutschland entscheidend sein. Ich erwarte keine fundamentalen Änderungen. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass die Abbaupflichten etwas ausgedehnt werden.

Frage: Kann Inflation dazu führen, dass Zinsen sprunghaft ansteigen mit den entsprechenden Konsequenzen für die Zinsbelastung des Staatshaushaltes?

Philippa Sigl-Glöckner: Die hohen Vermögenspreise sind eine negative Konsequenz der Geldpolitik. Sie rührt aber auch daher, dass die Fiskalpolitik nicht ihren Teil tut. Die Wirtschaft muss nun dringend angekurbelt werden. So ist der Instrumenten-Mix nicht optimal. Zu den Zinsen: Die Wahrscheinlichkeit eines sprunghaften Zinsanstiegs ist sehr gering. Aber selbst wenn es einen starken Anstieg gäbe, kann darauf aufgrund der langen Laufzeit der Staatsanleihen rechtzeitig reagiert werden.

Die Veranstaltung schloss mit einem Dank von Dr. Andreas Bachmeier an Philippa Sigl-Glöckner und einem kurzen Ausblick auf die nächsten Veranstaltungen.

Herzliche Grüße

Ihr

 

Dr. Andreas Bachmeier

Präsident

 


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